Ich bin halt Perfektionist/in - warum du dir damit unendlich schadest und wie du dich davon befreist.
„Ich bin halt Perfektionist/in.“
Ein Satz, den ich wiederholt in meiner Praxis höre, wenn Klienten versuchen, mir zu erklären, warum sie so gestresst sind.
Dabei kann Perfektionismus, oder der Hang dazu, wirklich quälend sein. Denn eines ist gewiss, die Perfektion de facto gibt es nicht und somit setzen wir uns damit ein unerreichbares Ziel, welches vor allem eines ganz sicher mit sich bringt: Stress und Frust. Perfektionismus hat einen sehr hohen Preis, er kostet Pausen, Ruhe, Erholung, Freiheit, das Gefühl der Entspannung, um nur einige zu nennen.
Alle perfektionistischen Bestrebungen haben eines gemeinsam, und dabei ist es völlig irrelevant ob es um die 15te Botox-Spritze, dem Aneignen von Wissen oder den sozialen Status geht. Sie entspringen dem Gefühl, nicht gut genug zu sein.
Perfektionismus ist eine Überlebensstrategie, die das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und somit ausgeschlossen zu werden, verdrängt und vermeintlich die Option offen hält, es könnte sich doch noch ausgehen, wenn man nur noch dies oder jenes täte oder hätte. Wer als Kind frühes Bindungs- und Entwicklungstrauma erlebt hat, kann sich also als Strategie den Perfektionismus zulegen, um die damals gefühlte Ohnmacht nicht mehr spüren zu müssen. Glaube ich nämlich, ich könnte besser, schöner, erfolgreicher werden, indem ich nur ausreichend dafür tue, so verblendet dieser Gedanke das ursprüngliche Gefühl, nicht gewollt oder geliebt zu sein.
So betrachte ich sogenannte Frühförderungen als sehr kritisch, entspringen sie doch sehr selten bis nie aus intrinsischer Motivation des Kindes, sondern der der Eltern, die „für ihr Kind das scheinbar Beste wollen“.
Werde ich aber bereits im Kleinkindalter damit konfrontiert, lernen zu MÜSSEN, damit meine Eltern zufrieden sind, ist die Basis für ein „nicht gewollt / nicht geliebt“ – Gefühl geschaffen. Nur wenn ich leiste, bin ich Teil der Familie, nur wenn ich tue, was man mir sagt, darf ich dazu gehören. Ein Samen für den später keimenden Perfektionismus.
Perfektionismus ist das Pflaster auf der Wunde der Identität. Diese Wunde des Selbstwerts und Selbstwertsempfindens schmerzt, denn sie wirft Fragen auf wie: „darf ich, möchte ich das überhaupt, bin ich eingebunden“?
Das Urvertrauen wird zerrüttet, denn wenn ich tun MUSS, damit andere zufrieden sind, heißt es automatisch, ich darf nicht sein wie ich bin.
In dieser frühen Traumatisierung steckt die Essenz nicht gewollt zu sein. Kinder können nicht abstrahieren und so bringen sie die Tätigkeit, die von ihnen verlangt wird, mit ihrer Identität untrennbar in Verbindung. „Du hättest ein Mädchen / Bub werden sollen“ ist genauso schädlich, wie „Ich wollte gar nicht schwanger werden, du warst ein Unfall“. Eines haben beide Aussagen, und davon kenne ich unzählbar viele, die in die selbe Kerbe schlagen, gemein: So wie du bist, bist du nicht ok bzw. ich hätte dich anders oder schlimmstenfalls gar nicht gewollt. Da ein Kind – wie erwähnt – nicht in der Lage ist, sich von der Bezugsperson zu distanzieren, muss es eine Strategie entwickeln, mit dem, was es von seiner Bezugsperson gespiegelt bekommt, umzugehen.
Da Bindung für Kinder die allerhöchste Priorität im Leben hat, um zu überleben, hat eine Abwertung bzw. eine Bewertung dieselbe Auswirkung wie eine echte Bedrohung. Wertungen bedrohen die Bindung und so scheint es die plausibelste Methode, um der Bedrohung zu entkommen, indem man beginnt Leistungen zu erbringen, um „besser“ zu werden, seinen Wert zu steigern. „Sieht“ der Vater seine Tochter nur, wenn sie Sport macht, so kann Sport zu einer zwanghaften Strategie werden, das Gefühl nicht gut genug zu sein, zu kompensieren. Denn Fehler, egal welcher Art, sind bedrohlich!
Fehler zu machen bedeutet, etwas nicht richtig zu machen und das wiederum wirkt bedrohlich. Die gefühlte Bedrohung bezieht sich aber nicht auf das, was getan oder eben nicht getan wird, sondern wird aufgrund der frühen Traumatisierung auf die eigene Identität projiziert. Bin ich nicht gut genug, bin ich fehlerhaft, bin ich falsch.
Perfektionismus bedeutet, dass wir uns nicht ausreichend von unseren Leistungen und Fehlern distanzieren können. Leistung ist nicht Identität, Fehler ist nicht Identität. Es ist wichtig, dass wir Leistungen erbringen und nicht Leistungen SIND, dass wir Fehler machen, aber nicht Fehler SIND.
Diese Differenzierung klingt befremdlich und doch ist sie so vielen Menschen nicht geläufig.
Wenn wir mit dem Glauben herumlaufen, dass wir perfekt sein müssen, sind wir gefangen in einer Abhängigkeit unserer Leistungen (oder unseres Aussehens, etc.) Dieser Leistungsdruck kann sich zu einer zwanghaften Dimension ausweiten und hat zur Folge, dass Kritik als vernichtend empfunden werden kann.
Menschen, die im Perfektionismus gefangen sind, sind nicht kritikfähig. Kritik bedeutet gleichsam Vernichtung! Die Angst vor Kritik und keine Toleranz vor Kritik versuchen vor allem eines: uns vor dem Gefühl der Vernichtung zu bewahren. Und damit beginnt der Teufelskreis.
Wir erbringen noch größere Leistungen, die Angst vor Kritik steigt damit proportional an, da es damit auch mehr Leistungen zum Kritisieren gibt. Was somit komplett wegfällt, ist die gesunde Pause, das gesunde, beruhigende Gefühl: „Ich hab gegeben, was ich konnte und es ist genug.“
Burnout als Modebegriff beschreibt nichts anderes, als ein gegen die Wand gefahrenes Nervensystem. Ein Nervensystem, welches durch das Aufrechterhalten der Kompensationsstrategien so dysreguliert wird, dass eine Selbstregulation unmöglich wird. Burnout-Prophylaxe sollte somit vor allem Eines beinhalten: die Hinwendung zu den Anteilen, die im Perfektionismus gefangen, schwer bedürftig sind und echte Zuwendung brauchen.
Dem Perfektionismus bieten sich viele Projektionsflächen. Der Körper, der nicht schön genug ist und wo uns von der Werbung suggeriert wird, wir könnten ihn so verändern, damit er endlich passt. Sei es durch Diäten, Schönheits-OP’s, Cremen, Spritzen, Sport, die Kleidung, die wir tragen, etc. Die Dimension, die die Wirtschaft damit verdient ist atemberaubend! Die Wohnung, die perfekt geputzt sein muss, wo bestenfalls niemand reindarf, um diese Ordnung nicht zu stören. Das Make-Up, ohne das man auf gar keinen Fall außer Haus gehen kann, das neueste Auto, welches am Sonntag gehegt und gepflegt wird, damit es glänzt und hoffentlich den Neid der anderen hervorruft.
Die Werbung – egal welche – versucht uns Dinge zu verkaufen, die vor allem eines sollen: uns besser fühlen lassen. Kauf dir dein gutes Gefühl! Leider funktioniert das nicht. Zurück zum Ursprung dieser schädlichen Verhaltensweisen:
Nicht dazuzugehören, bedeutet für ein Kind den sicheren Tod. So wird es alles tun, um die notwendige Bindung aufrecht zu erhalten. Abwertungen oder Nicht-Entsprechen sind trennend. Solidarisieren wir uns aber in der Abwertung mit dem Elternteil, so sind wir wieder verbunden. Das bedeutet, wenn wir selbst glauben, dass wir nicht gut genug sind, so fühlen wir uns den Eltern wieder näher. Diese Anteile, die uns selbst glauben lassen, wir wären nicht ausreichend, nennt man Introjekte. Sie repräsentieren die Botschaften, die wir von außen empfangen haben.
Jetzt wird der eine oder die andere unter euch denken: Meine Eltern waren doch immer da für mich. Wirklich? Wenn du in den 70-er Jahren geboren bist, dann hast du mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht die körperliche Zuwendung bekommen, die du als Baby gebraucht hättest. Es galt die landläufige Meinung, Kinder dürften nicht in das Elternbett, dürften nur alle 4 Stunden gefüttert werden, Schreien würde die Lungen stärken und andere haarsträubende Erziehungsmaßnahmen. Was haben wir in der Zeit gelernt? Wie kann sich ein 3 Monate altes Baby selbst erklären, dass es die Eltern gut meinen, indem sie es wegsperren und sich selbst überlassen, weil es zu schlafen hat? Gar nicht. Es muss die gewaltigen Gefühle des Verlassen seins, des nicht Gehört-werdens – der Ohnmacht etc. abspalten, um zu überleben.
Und genau diese Ohnmacht ist der fruchtbare Boden für Kompensationsstrategien, unter anderem auch die des Perfektionismus. Wir sind getrieben von dem Bedürfnis zu gefallen, gut zu sein, angenommen zu werden und dafür sind wir bereit, so ziemlich alles zu tun. Wir untergraben unsere Selbstbestimmung, verlieren an Kreativität und Neugierde, die es braucht, um tiefgreifende, neue Erfahrungen zu machen. Es zahlt sich also jedenfalls aus, seinen Perfektionismus traumasensibel begleitet genauer zu beleuchten, um die Energie, die bei dem Kampf um das Besser-werden aufgebracht wird, für gesunde Anteile freizugeben.
Der Weg geht über die Desidentifizierung. Weder bist du deine Leistung, noch bist du deine Fehler. Denn, wie bereits erwähnt, Perfektionismus ist ein Dauerstress, ein Dauererregungszustand in deinem Nervensystem. Und das sogenannte Stresstoleranzfenster wird bekanntlich immer kleiner, denn je mehr wir tun, um besser zu werden, umso mehr Fehler können passieren, umso müder werden wir, umso eher sehen wir, dass wir nicht genug gemacht haben, dass wir noch mehr tun könnten. Der einzige Weg raus führt, traumasensibel begleitet, zu dir selbst, zu deinem ursprünglichen Ich. Dein Ich trägt eine tiefe Sehnsucht in sich, nämlich die, der bedingungslosen Anerkennung und des Willkommen Heißens seines selbst. Die Anerkennung, dass es dir zusteht, gewollt und geliebt zu sein, ohne dich dafür verbiegen zu müssen, ohne etwas dafür tun zu müssen, sondern ausschließlich für dein SEIN.
Wenn du noch mehr zu dem Thema Perfektionismus sehen & hören möchtest, dann empfehle ich dir mein Interview bei Kurier-TV. Den Link dazu findest du HIER
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